„Wagnis und Chance…“

Die etwa 50 Teilnehmer, die am 30. Juni 2012 den Einladungen der Akademie für Angewandte Musiktherapie Crossen zu ihrem 20–jährigen Bestehen gefolgt waren, erlebten ein Geburtstagskolloqium, wie es für die Arbeit der DMVS und ihre Akademie auch im Alltag kennzeichnend ist: verbindlich, einander zugewandt, aber auch sehr konzentriert in den Beiträgen und ökonomisch im Umgang mit der zur Verfügung stehenden Zeit.

In Grußworten, Analysen, Wegebeschreibungen und Außenansichten wurde eine Geschichte nachgezeichnet, die sich, ähnlich einem Baum, nicht nur in vertikaler Richtung entwickelt, sondern auch über den eigenen unmittelbaren Horizont hinweg, Kreise gezogen hat. Etwas davon zu spüren war etwa im Grußwort von Frau Prof. Bauer; Berlin, die der Regulativen Musiktherapie nach Schwabe zuerst innerhalb des musiktherapeutischen Studienganges an der Universität Wien begegnet war und dieses Konzept im methodischen „Handgepäck“ als Dozentin für Weiterbildungsstudiengänge bis nach Chile mitgenommen hatte. Ein weiteres Beispiel für weitreichende Verbindungen bot ebenfalls Yutaka Nakagawa, Professor an der Kunsthochschule Nagoya in Japan, der das Lehrbuch für Sozialmusiktherapie (SMT) von C. Schwabe und U. Haase ins Japanische übersetzt hat und in einer kurzen Ansprache sein Verständnis von Sozialmusiktherapie „als Kontrapunkt in einer technisch orientierten Welt“ zum Ausdruck brachte.

Die Entwicklung dieser musiktherapeutischen Konzeption und deren institutionelle „Formgebung“ unter verschiedensten gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen schilderte anschließend Christoph Schwabe in seinem Vortrag sehr eindrücklich und sichtlich bewegt; er nahm, ähnlich wie die folgenden Referenten, immer wieder auch Bezug auf den langjährigen konzeptionellen Mitentwickler, kritisch-konstruktiven Begleiter und Mitstreiter, Dipl.-Mus. Axel Reinhardt; Dresden, der, schwer erkrankt, nicht am Kolloquium teilnehmen konnte.

Christoph Schwabe gliederte sein Referat „ Wagnis und Drahtseilakt“ in vier Entwicklungsphasen, deren Anfänge von jeweils einschneidenden Zäsuren entscheidend mitgeprägt wurden und letztlich zur Gründung der Akademie für Angewandte Musiktherapie Crossen unter dem Dach der Deutschen Musik-therapeutischen Vereinigung zur Förderung des Konzeptes nach Schwabe (DMVS) führten. Ausgehend von einer Zeitspanne innerhalb der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts mit als ideal beschriebenen interdisziplinären Ausgangsbedingungen an der Leipziger Universitätsklinik für Psychotherapie, schilderte der Referent die Entwicklung und praktische Verwirklichung dieser Konzeption als stete dialektische Auseinandersetzung mit sich ändernden Umgebungsbedingungen. In der Konsequenz, so ließ sich seinen Worten entnehmen, führten all diese Veränderungen, waren sie nun fachlich- grundsätzlicher, politischer oder wirtschaftlich-organisatorischer Natur, letztlich dazu, das Konzept nach Schwabe von einseitigen Zuordnungen zu bestimmten psychotherapeutischen Schulen zu lösen, für vielfältige Anwendungsbereiche kooperationsfähiger und somit unabhängiger zu gestalten.

Eine der größten existenzbedrohend erscheinenden Herausforderungen bestand dabei zweifellos in den strukturellen Zerfallserscheinungen infolge des Zusammenbruchs der DDR. Die Zerstörung des poliklinischen Versorgungssystems , veränderte wissenschaftliche und wirtschaftliche Interessenlagen und die Annullierung eines bereits in Gang gesetzten Hochschulstudienganges für Musiktherapie in Dresden durch die damalige sächsische Staatsregierung , die Christoph Schwabe als „ eindeutig politisch motiviert“ charakterisierte, führte letzten Endes, so der Referent, zur Entscheidung, Musiktherapieausbildung außerhalb staatlich gelenkter Hochschulpolitik anzubieten und somit zur Gründung der DMVO (heute DMVS) mit der Akademie für Angewandte Musiktherapie Crossen.

Als „ Drahtseilakt“, der diesem Neubeginn folgte, beschrieb der Redner anschließend den Vorstoß auf haushaltpolitisches Neuland, der für die DMVS bedeutete, als Verein ohne Möglichkeit, Profit zu erwirtschaften, die Arbeit der Akademie gewährleisten zu müssen. In diesem Zusammenhang würdigte er das bisherige Gelingen dieses „Unternehmens“ durch die enge Verzahnung von qualitativ hochwertiger, praxisnaher Ausbildung mit wachsenden Teilnehmer-zahlen, kluger Haushaltführung und viel idealistischem Engagement und dankte mit sichtbarer Rührung, stellvertretend für alle Mitarbeiter und Dozenten der Akademie, der Ausbildungsleiterin Ulrike Haase und dem Vereinsvorsitzenden Gerhard Landes.

Unmittelbar im Anschluss an die Ausführungen von Schwabe zeichnete Ulrike Haase sehr plastisch und mit Blick für Details den Werdegang der Akademie nach, der mit der Suche nach geeigneten Dächern und Kooperationspartnern ebenfalls an vielen Weggabelungen gestanden hat, an denen sich die Frage nach Konzepterweiterungen oder Abgrenzung neu stellte. Ob in einem ehemaligen reizvollen Schloss in Crossen, in einer Landwirtschaftsschule in Wetzdorf oder letztlich in der Fachklinik Klosterwald, ob in Zusammenarbeit mit der Universität Siegen, im Rahmen von sozialpädagogischen Ausbildungsgänge oder für ein breitgefächertes medizinisches, soziales und pädagogisches Berufsspektrum, immer erschien in den Worten von Ulrike Haase eines unveräußerlich, nämlich die Grundüberzeugung , das Lernen als Prozess zu sehen, der vielfach über das Erleben geht und sich für Fehler interessieren darf – ja, sollte.

Gleichzeitig wurde in beiden Vorträgen deutlich, dass das Wachsen in die Höhe und Breite immer auch von kritischen Auseinandersetzungen mit dem eigenen Konzept und den Konzeptvorstellungen Anderer begleitet war. Dass dieses Ringen um fachliche Differenzierung mit Fachkollegen mitunter auch den Abschied von einstigen Wegbegleitern bedeutete und manchmal schmerzhafte Spuren bei den Beteiligten hinterlassen haben mochte; auch das war in manchen Passagen durchhörbar.

Nach der wohlverdienten Kaffeepause hob Gerhard Landes einige wissenschaftliche Höhepunkte hervor, die z.T. in Form von Musiktherapie-Tagungen und Musik- und Kunstfestivals in jährlichem Abstand Teil der Akademiearbeit war. Liest man die Titel der einzelnen Tagungsbände, kann man das Bestrebung der Akademievertreter deutlich erkennen, über den musiktherapeutischen Tellerrand hinaus zu blicken, eine breite Palette an Themen anzubieten und für alle Sinne erlebbar zu machen. Diese Erfahrung zeige, so stellte Landes fest, dass das wissenschaftliche Arbeiten nicht nur an Universitäten gebunden sei, sondern auch in anderen Instituten gelebt werde.

Wie zur Bekräftigung dieser These war am Nachmittag der Tagung eine interessante und ungewöhnliche „Sicht von außen“ zu erleben, in welcher Prof. Dr. Ernst Walter Selle, Heidelberg, – nachdem er seine persönliche Begegnung mit dem Schwabe- Konzept in Klosterlausnitz geschildert hatte – die Aufmerksamkeit auf Entwicklungsparallelen von Musiktherapie und Gesellschaft lenkte. 

Ernst Walter Selle ging darin jenen Zusammenhängen nach, mit denen das Arbeiten unter den ehemals grundverschiedenen politischen Bedingungen zweier deutscher Staaten die Entwicklung der Musiktherapie geprägt hat. Und ähnlich, wie erst der menschliche Sehvorgang die Einzelbilder beider Augen zu einem Ganzen formt, so entstand im Laufe des Referats plötzlich ein räumliches, gleichsam „tiefengeschärftes“ Bild der Musiktherapiegeschichte im einst geteilten, dann vereinigten Deutschland. Mit leisem, pointierten Humor zeichnete der Referent das Bild des musiktherapeutischen „ Solisten“, der in der Bundesrepublik der Vorwendezeit seinen Platz in der Vielfalt nebeneinander existierender (und miteinander konkurrierender) Konzepte zu wahren hatte, währenddessen unter den Bedingungen der damaligen DDR viele Musiktherapeuten in manchmal „subversiv“ anmutender Weise gemeinsam bemüht waren, auf fachlich übereinstimmender Grundlage mit interdisziplinären Angeboten Patienten eine individuelle Therapie zu ermöglichen.

Nachdem er mit dem „Aufgehen im gesamtdeutschen Pluralismus“ kurz das umrissen hatte, was für das musiktherapeutische Konzept nach Schwabe mit so vielen Gefährdungen, aber auch konzeptionellen Entwicklungsschüben verbunden gewesen war, richtete Ernst Walter Selle den Blick der Zuhörer mit der sehr verbindlich formulierten Bitte nach vorn, dass statt der Betonung von Gegenpositionen das Miteinander stärker belebt werden möge. Der Redner warb dafür, miteinander mehr ins Gespräch zu kommen – und zu bleiben, mehr von den eigenen fachlichen Sichtweisen zu publizieren, aneinander teil zu haben und lud dazu ein, sich „ im Westen“ offensiver zu engagieren. 

Nach dieser sachlich differenzierten, mit spürbar persönlicher Anteilnahme und leisem Humor vorgetragenen Analyse der deutsch – deutschen musiktherapeu-tischen Befindlichkeiten tat es gut, bei einem musikalischen improvisatorischen Intermezzo das Gehörte nachklingen zu lassen. 

Etwas von dem, was gemeinsame Teilhabe am Tun und Erleben ins Schwingen bringen konnte, war neben den vielfältigen Pausenunterhaltungen vor allem am Abend zu erleben. Neben originellen Geburtstagsständchen und Chansons, einem jungen Spitzahorn als Geschenk und improvisierten Tangoszenen reizten auch spontane Kanons zum Mitmachen, und boten so einen sehr gelungenen Ausklang des Festkolloquiums.

Ingesamt war es ein würdiges Jubiläum, dem man so, wie es war, die Attribute „klein, aber fein“ hinzufügen möchte und gern noch mehr Besucher gewünscht hätte. Ein großer Reiz des Rückblicks auf 20 Jahre Akademie für Angewandte Musiktherapie Crossen lag diesmal zweifellos in der Möglichkeit, ein Stück Musiktherapiegeschichte von mindestens zwei verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten, die sonst im wahrsten Sinne des Wortes oft “ ein- seitig“ bleiben.

Darüber hinaus wurde der Autor inmitten der Vielfalt des Gehörten und im Angesicht der bis heute erfolgreichen Arbeit von DMVS und Akademie immer wieder auch an ein ermutigendes Wort Hölderlins erinnert, das vielleicht von ähnlich unmittelbarer Erfahrung von Krise und Aufbruch spricht: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch…“.

 

Andreas Oschatz